Kommentar: Aus diesen Gründen ist die Coronapolitik zu kritisieren

Kommentar: Aus diesen Gründen ist die Coronapolitik zu kritisieren

Kommentar Ich schaue neidvoll neidvoll nach Tübingen.

Dort, wo Boris Palmer als Grüner Oberbürgermeister die Geschicke lenkt, bewältigt man erfolgreich die Coronapandemie. Sein "Geheimnis": Es wurden konsequent die älteren Menschen geschützt. Wer in einem Altenheim arbeitet, wurde regelmäßig verpflichtend getestet. Dort wurden zuerst Altenheime mit Schnelltests versorgt. Das gleiche Prinzip wurde bei Mitarbeitern von Pflegediensten angewandt, die ältere Menschen in deren Wohnung versorgen. Für ältere Menschen gab es kostenlose FFP2-Masken oder besondere Einkaufszeiten. Das sind einige der Maßnahmen.

Das Ergebnis ist herausragend. Bemerkenswert ist dabei, dass Tübingen in Baden-Württemberg liegt, das aktuell besonders hart von der Coronapandemie betroffen ist. Der Inzidenzwert lag in Tübingen zwar vor ein paar Tagen bei 100. Bei den über 75-Jährigen gab kaum Neuinfektionen. Das hat gebracht, worum die Politik in ganz Deutschland vorgeblich kämpft. Die Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems. Die Uni-Klinik dort hat nur wenige Coronapatienten.

Hier hat man es in meinen Augen falsch gemacht - wider besseren Wissens. Das Lagebild Corona, ein interner, täglich aktualisierter Bericht, spricht eine eindeutige Sprache.

Während, bis auf die kleineren Kinder, die Zahl der Neuinfektionen bei den Menschen bis 59 eher überdurchschnittlich ist. Liegt sie bei den Altersgruppen der 60 bis 79 deutlich unter dem Schnitt. Offenbar sind diese Altersgruppen einerseits weniger aktiv, anderseits scheinen sie sich mehr zu schützen. Bei den über 80-Jährigen, von denen besonders viele in Seniorenheimen leben dürften, ist die Infektionsrate überdurchschnittlich.

Der Blick auf die Krankenhausbelegung mit Corona-Erkrankten in Hamburg, zeigt, wie wichtig der gezielte Schutz von älteren Menschen wäre. Am 8. Dezember lagen 402 Menschen mit Covid19 in Hamburger Krankenhäusern. 270 davon sind über 70 Jahre alt. Das sind rund 67,2 Prozent.

Von den etwa 16.000 Menschen, die in 149 Pflegeinrichtungen leben, wurden bislang etwa 10 Prozent mit Covid19 infiziert. Der Anteil der Gesamtbevölkerung, der bislang mit Covid19 infiziert wurde, liegt dagegen bei 1,1 Prozent. Damit gibt es in Altenheimen fast zehnmal so viele Infizierte, wie im Durchschnitt.

Die Zahlen stammen nicht von einem dahergelaufenen Querdenker. Es sind Zahlen der Hamburger Behörden, die intern in einem täglichen Lagebericht stehen.

Noch deutlicher wird es bei den Verstorbenen. Laut einer Erhebung der Hamburger Sozialbehörde, die von Ende November stammt und die letzte in dem täglichen Lagebericht aufgetauchte Statistik der Altersgruppen der Coronatoten in Hamburg ist, waren 267 der 312 Menschen, die bis dahin mit Covid19 in Hamburg starben, über 70 Jahre alt. Das entspricht einem Anteil von etwa 85,6 Prozent.

Corona ist schlimm. Für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mehr. Für die meisten weniger. Ausnahmen bestätigen, wie bei Lungenentzündungen oder Grippewellen, die Regel. Auf 25.100 Tote schätzt das Robert-Koch-Institut die Zahl der Grippetoten in der Saison 2017/2018. Coronatote gab es bislang, Stand 11. Dezember, bundesweit 20.970.

Die Politik hatte alte Menschen nicht ausgrenzen wollen und sich gesträubt solche Einrichtungen konsequent abzuriegeln. Gleichzeitig hat man gezieltere Hilfen unterlassen. Ich hätte mir gewünscht, dass Personal die Pflegekräfte dort, beispielsweise bei der Durchführung von Schnelltests. unterstützt hätte, statt irgendwelche Infektionen von irgendwelchen und manchmal nicht erkrankten Menschen nachzuverfolgen. Ich kann nicht sehen, dass das den gewünschten Erfolg hatte.

Ich hätte mir auch eine Notfallzulassung von Impfstoff für besonders alte und gefährdete Menschen gewünscht. Denn ich glaube nicht, dass für einen 85-Jährigen die Langzeitfolgen angesichts der aktuellen Gefahr eine große Rolle spielen. Hier verplempert man nur Zeit.

Kritik ist kein Leugnen. Wir haben eine Coronawelle. Man sollte sich schützen. Und man sollte umsichtig und rücksichtsvoll sein. Es ist richtig und umsichtig eine Maske zu tragen. Es ist auch jedem belassen, wenn er Angst hat, sich besonders zu schützen, beispielsweise durch eine freiwillige Quarantäne. Das kann man auch ohne Lockdown.

Ein Lockdown hat andere Folgen. Die Kollateralschäden, so glaube ich, treffen uns nicht heute und nicht gleich morgen. sie werden aber unvermeidlich und mit jedem Lockdown größer. Wie man sich darum bemüht, nicht das Gesundheitswesen zu überlasten, sollte man auch andere Bereiche im Blick haben, die für ein Funktionieren und den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig sind. Auch sie dürfen nicht überlastet werden.

Man muss sich daher keinen Aluhut aufsetzen, um die Coronamaßnahmen kritisch zu sehen. Hätte man einen Palmer statt einen Tschentscher, oder besser einen Palmer statt einen Söder, der sich gerade in der Rolle als "harter Hund" gefällt, aber eher einer der drei Inzidenz-Königs ist, wäre die Situation angesichts einer Pandemie vielleicht in einem Ballungszentrum wie Hamburg nicht genau so gut wie in Tübingen. Ich bin mir aber sicher, dass sie - und das gilt nicht nur für Hamburg -  besser wäre.

André Zand-Vakili

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