Gewinner und Verlierer - ein subjektiver Rückblick auf 2016
Bezirksamtsleiter Thomas Völsch bei einer Veranstaltung mit Jochen Winand. Foto: zv

Gewinner und Verlierer - ein subjektiver Rückblick auf 2016

Harburg – Die letzten Böller sind (hoffentlich) angezündet, das Jahr beginnt grau, dunkel und kalt. Bis man endlich wieder draußen sitzen und das Leben richtig genießen kann,

werden fünf lange Monate vergehen. Viel Zeit, um Bilanz zu ziehen – zum Beispiel über den Bezirk Harburg im Jahr 2016. Es gab Gewinner und Verlierer, die Auswahl ist immer subjektiv. Wir versuchen es trotzdem.

Es wird so manchen überraschen, aber Bezirksamtsleiter Thomas Völsch ist einer der Gewinner des Jahres. Voraussichtlich im November wird er sich in der Bezirksversammlung zur Wiederwahl für weitere sechs Jahre stellen. Sorgen muss er sich indes kaum noch machen. Kritik aus den Reihen der Großen Koalition ist zurzeit nicht zu hören. Warum auch? Das Zweckbündnis steht. Die SPD freut sich, dass sie nach dem Verlust der absoluten Mehrheit weiterhin „regieren“ darf, CDU-Chef Ralf-Dieter Fischer nutzt eine seiner letzten Chancen, den Bezirk nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

Die Harburger GroKo müsste eine Steilvorlage für die Opposition in der Bezirksversammlung sein. Aber Grüne und Linke, also die beiden größten Oppositionsfraktionen, haben es vorgezogen, Völsch ohne Not und viel zu früh ihre Stimmen für die Wiederwahl anzudienen und auch noch öffentlich zu erklären, sie seien zufrieden mit seiner Arbeit.

Besser kann es für Völsch gar nicht kommen? Doch! Jochen Winand, Vorsitzender des Wirtschaftsvereins für den Hamburger Süden, der die Interessen von mehr als 260 Unternehmen vertritt, lässt keine Gelegenheit aus, Völsch zu loben. Winand: „Er hat ein Ohr für die Wirtschaft.“ Na, denn.

Unser nächster Gewinner ist Harald Krüger, Kreisgeschäftsführer des Roten Kreuz Harburg. Der ehemalige CDU-Bürgerschaftsabgeordnete macht Politik für die Menschen  – ohne Sitz und Stimme in einem Parlament. Mit seinem Plan, in Harburg eine Tagesstätte für Obdachlose samt einiger Schlafplätze einzurichten, reagiert er auf Berichte über Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben und andere Menschen stören. Statt die Obdachlosen auszugrenzen, entwickelt Krüger Lösungen, wie man ihnen helfen könnte – und zeigt dabei auch Verständnis für besondere Bedürfe wie einem Extra-Schlafraum für Frauen und die Möglichkeiten, auch Obdachlose mit Tieren nicht vor die Tür zu setzen.

Auch bei internen Lösungen hat Krüger eine gute Hand. So ermutigte er die ehemalige Grünen-Bezirksabgeordnete Heinke Ehlers für ein Vorstandsamt zu kandidieren. Offenbar schätzt Krüger ihre Expertise und ihre Erfahrung – im Gegensatz zu ihren Parteifreunden. Die halten Heinke Ehlers für „zu kritisch“.

Dabei ist Kritik durchaus gefragt – zum Beispiel im sogenannten Kulturausschuss. Ausgerechnet da, wo neue Ideen für eine positive Entwicklung des Bezirks entwickelt, wo Freiräume für Kulturschaffende geschaffen und wo die zarte Pflanze „kreatives Milieu“ gepflegt werden könnten, ausgerechnet da fehlt es an kulturpolitischer Expertise. Nicht einmal eine Handvoll Politiker, die versteht, wie man die Harburger Kultur fördern könnte, ist dort zu finden. Umso wichtiger ist, dass mit Heiko Langanke von SuedKultur einer da ist, der als Gründer des  ehemaligen Jazzclubs im Stellwerk und Träger des Harburger Musikpreises 2013 weiß, wovon er redet und immer wieder das Verhältnis von Politik, Verwaltung und Kulturszene definiert. Vor allem ist er ein Gewinner, weil er mit dem Relaunch der Website sued-kultur.de ein einzigartiges Kulturportal für den Hamburger Süden entwickelt hat und dort mit der Rubrik „Tiefgang“ ein wertvolles Feuilleton für Harburg anbietet.

Sie will es nicht hören und sich am liebsten hinter ihrem Team verstecken. Aber Anne Rehberg, Organisatorin des Harburger Weihnachtsmarkts, ist eine Gewinnerin des Jahres. Dass sie eine besondere Frau ist, die mit Energie, Ideen und Kommunikation Jahr für Jahr ein kleines, aber  feines Event auf die Beine stellt, mit dem sich Harburg schmücken kann, ist nicht neu. Jetzt hat sie mit ihren Bastelaktionen für Kinder aber etwas geschafft, was nicht überall klappt: Die Kinderschar ist durch und durch multikulti, das Basteln zaubert in alle Knirpse leuchtende Augen. So steht Anne Rehberg diesmal für alle, die ihre Energie nicht für unsägliche Selbstdarstellungen und nutzlose Debatten in den unsozialen Medien verplemperm, sondern sich aktiv dafür einsetzen, dass geflüchtete Menschen einen besseren Start in unserer Gesellschaft haben – egal ob sie das privat oder professionellen Netzwerken tun.

Der Interessengemeinschaft Este von Rainer Podbielski und seinen Mitstreiterin ist etwas gelungen, woran sich die Politiker immer wieder die Zähne ausbeißen (oder es gar nicht erst anpacken): die Metropolregion Hamburg zu leben. Die reine Lehre der Millionenstadt und ihres Umlandes geht von gemeinsamen Planungen über Ländergrenzen hinweg aus. Ganz so weit ist die IG Este noch nicht, dafür hat sie aber eine Planung der Nachbargemeinde Buxtehude gestoppt, die die Interessen der Hamburger Este-Anrainer komplett ignoriert. Der anhaltende Widerstand der IG Este hat dafür gesorgt, dass das Planfeststellungsverfahren zu den Buxtehuder Minideich-Plänen auf Eis liegt –  wegen schwerer rechtlicher und hochwassertechnischer Mängel. Jetzt soll es eine grenzüberschreitende „Hochwasser-Partnerschaft Este“ geben.

Klarer Verlierer des Jahres ist die Große Koalition. SPD und CDU haben nicht die Chance genutzt, mit einer breiten Mehrheit im Rücken die Bürger mitzureißen und ihnen mit frischen Ideen das Gefühl zu geben, die Stärken Harburgs nutzen zu wollen und diese wilde Mischung aus vielen Kulturen in eine attraktive bunte Universitätsstadt zu verwandeln. Mit ihrer breiten Mehrheit konnte die GroKo machen was sie wollte – und das hat sie auch getan und die politische Kultur bis zur Peinlichkeit verkommen lassen.

Und deshalb ist auch die SPD ein Verlierer. Sie hatte zwar die absolute Mehrheit verloren, ihren Führungsanspruch tragen einige Genossen aber heute noch wie eine Monstranz vor sich her – ohne diesen Anspruch einlösen zu können. Dass fast alles, was aus dem Senatsgehege angeordnet wurde, widerstandlos umgesetzt wird, mag die innerparteiliche Hygiene pflegen, die Bürger verstehen es nur selten. Wer die schweigenden Genossen im Kulturausschuss erlebt hat, wer die betretenen Gesichter in den hinteren Reihen der SPD-Fraktion gesehen hat, wenn mal wieder ein paar CDU-Kröten geschluckt werden mussten und wer hören muss, dass Genossen aus der ersten Reihe wieder in die Gräben gesprungen sind, um einen Kampf um die Nachfolge des erkrankten Vorsitzenden der Bezirksversammlung Manfred Schulz auszutragen, macht sich Sorgen um die Zukunft der Harburger SPD. Ihr Profil hat sie längst verloren.

Und die CDU? Besoffen von der Vorstellung, bei den Wahlen um ein paar Prozente besser dazustehen als die Landes-CDU mit ihren jämmerlichen 15 Prozent, sehen sich Fischer und seine Männer aus der ersten Reihe als Gewinner. Aber die Harburger CDU ist ohne Zweifel ein Verlierer des Jahres. Wie will sie denn das Tal der Tränen verlassen, wenn sie existenzielle Fragen ihrer Zukunft nicht klärt und sich stattdessen einzig und allein auf die große RaDiFi-Show verlässt, in der mit lähmender Penetranz immer wieder versucht wird, den Baudezernenten vorzuführen und jeden Ansatz von zeitgemäßer Stadtentwicklung zu verhindern.

Die Harburger CDU hat ganz andere Probleme: Wie reagiert sie zum Beispiel auf die anhaltende Diskussion über die männlich dominierte Kandidatenliste für den Bundestag? Ist sie sich im Klaren darüber, welche Signale damit nicht nur an die Wähler, sondern auch an jene Frauen gesandt werden, die sich in der CDU politisch engagieren möchten, aber das Pech haben, nicht der Fischer-Familiensippe anzugehören? Wer allerdings die peinlichen Frauenwitze eines Harburger CDU-Ausschussmitglieds bei Facebook liest, kann nur jeder Frau raten, dieser Partei fernzubleiben. Und wie will Fischer jene Parteigänger in den Griff bekommen, die bei Facebook offen mit der rechtsextremen Identitären Bewegung liebäugeln? Mit einer liberalen und weltoffenen Großstadtpartei, die  endlich mal wieder sicher über 20 Prozent kommen will, hat das wenig zu tun.

Ein weiteren Tiefschlag musste auch die Bürgernähe hinnehmen. Und damit ist sie auch ein Verlierer des Jahres. Anlass ist der Vorstoß von SPD und CDU, das Wahlrecht erneut zu ändern. Es sei zu kompliziert. Für wie dumm halten diese Politiker eigentlich die Bürger? Glauben sie wirklich, dass die Leute nicht bis fünf zählen können und dass sie es nicht kapieren, dass man als Wähler einer einzelnen Kandidatin seine fünf Stimmen geben kann, diese aber auch auf mehrere verteilen kann?

Das Problem ist nicht die Kompetenz der Wähler, vielmehr weigern sich die Parteien, den Wählern wirklich eine Auswahl anzubieten. Oder hat schon mal jemand vor Beginn der Briefwahl ein Heftchen gesehen, in dem sich alle zur Wahl stehenden Personen vorstellen und verraten, wie sie sich für die Bürger einsetzen wollen und welche Ideen sie haben?  Und wenn eine Partei so ein Heftchen für zu aufwändig hielt, warum werden nicht zumindest auf den jeweiligen Homepages alle einmal vorgestellt? In Wirklichkeit wollen SPD und CDU (die anderen haben sich noch nicht geäußert) den Bürgern nur die Möglichkeit geben, eine Auswahl anzukreuzen, die die Parteigremien vorgenommen haben. ag